Newsarchiv

Newsarchiv

Kenenisa Bekele: «Ich denke, ich bin bereit»

Zwischen 2001 und 2007 war Kenenisa Bekele in 27 Rennen ungeschlagen. In seiner grandiosen Karriere war er dreimal Olympiasieger und fünfmal Weltmeister, dazu Hallen-Weltmeister und zwölfmal Cross-Weltmeister. 2004 und 2005 stellte er über 5000 und 10 000 Meter Weltrekorde auf, die noch immer unangetastet sind. Es waren die Jahre, als sein Manager Jos Hermens einmal sagte: «Er ist nicht Jesus, weil er nicht auf dem Wasser laufen kann, aber an Land kann keiner Kenenisa Bekele schlagen.»

Das hat sich geändert, seit der inzwischen 35-jährige Äthiopier zum Marathon gewechselt hat. In sieben Rennen zwei Siege und zwei Aufgaben, daneben ein zweiter, ein dritter und ein vierter Rang – aber im letzten September in Berlin mit 2:03:03 Stunden nur sechs Sekunden über Dennis Kimettos Weltrekord. Auf die WM in London verzichtete er, weil er sich nicht fit genug fühlte – und vielleicht auch, weil er es vorzieht, nochmals seine Grenzen auszuloten. Die Frage steht im Raum: Welchen Bekele bekommen wir am Sonntag zu sehen? Er selbst gibt sich vorsichtig optimistisch: «Ich denke, ich bin bereit. Das Training verlief nicht immer optimal, weil wir viel Regen hatten, ich würde es auf 90 Prozent veranschlagen. Ich lief zwischen 160 und 180 Kilometer in der Woche und blieb zum Glück von grösseren gesundheitlichen Rückschlägen verschont. Kleinere Probleme gibt es immer.»

Mit Eliud Kipchoge, Wilson Kipsang und Bekele sind die drei im Moment besten Marathonläufer in Berlin am Start. Etwas, das sonst nur London mit einem viel grösseren Budget gelingt. Auf der schnellsten Strecke der Welt laufen zu können, zählt für die Stars der Szene mehr als das Geld. Das Ganze birgt aber auch eine Gefahr. Gerade in London zeigt sich immer wieder, dass zu viele Köche den Brei verderben, das heisst: irgendwann geht es nur noch um den Sieg. Bekele sieht das anders: «Keine Frage, wer in Berlin läuft, will eine schnelle Zeit.»

Falls Bekele in Bestform ist, wird er  Eliud Kipchoge und Wilson Kipsang das Leben schwer machen. Allerdings sind bei ihm Voraussagen schwierig. Wie reagiert sein Körper, wenn das Tempo auf eine Zeit von unter 2:02:30 gehen sollte? Seit seinem Umstieg auf den Marathon hatte er immer wieder Probleme mit den Achillessehnen und der Hamstring-Muskulatur. Er sagt sogar: «Nach meiner Premiere in Paris konnte ich nie so trainieren, wie es für einen Marathon nötig ist. Die Vorbereitung auf Berlin vor einem Jahr war auch nicht so, wie sie hätte sein sollen.» Trotzdem lief er 2:03:03 Stunden. Und jetzt? «Ich hoffe auf eine persönliche Bestleistung unter 2:03:00. Ich habe gehört, Eliud wolle unter 2:02 laufen. Wir werden sehen.»

Nach seinem zweiten Marathon in Chicago, wo er das Spitzentrio kurz nach dem 30. Kilometer ziehen lassen musste, holte er sich die Expertise des italienischen «Gurus» Renato Canova, der seine Zelte meist in der kenianischen Stadt Iten aufgeschlagen hat, nun aber öfter in Äthiopien anzutreffen war. Doch auch Canovas Nähe brachte nicht den erhofften Erfolg. Im Januar 2015 stieg Bekele in Dubai nach 30 Kilometern aus; wieder war die Hamstring-Muskulatur das Problem. Aber nach Canovas Meinung waren die Achillessehnen der eigentliche Grund. «Er spürte sie schon im Training und auch im Rennen wieder, was zu einer Verkrampfung führte.» Danach musste Bekele auf London verzichten und konnte auch im Herbst keinen Marathon laufen. Therapie war angesagt.

Dann kam London 2016: Dritter in 2:06:36, zweieinhalb Minuten hinter Eliud Kipchoge. Nach den Problemen im Vorjahr hatte er erst in den letzten sieben Wochen richtig trainieren können. Dass er danach nicht für Rio selektioniert wurde, löste eine Art Trotzreaktion aus. Er wollte dem äthiopischen Verband zeigen, dass er hätte dabei sein müssen. Und so gelang ihm – für viele völlig unerwartet – die Glanzleistung in Berlin. Auch ein Jahr später überwiegen die positiven Gedanken: «Erst auf dem letzten Kilometer realisierte ich, wie nahe ich am Weltrekord war. Ich gab nochmals alles. Die sechs Sekunden sind ärgerlich. Aber ich habe gezeigt, dass ich Weltrekord laufen kann.» Die Achterbahnfahrt war damit aber nicht zu Ende: In Dubai stürzte er im Startgedränge und musste aufgeben, in London wurde er überraschend vom kenianischen Neuling Daniel Wanjiru geschlagen.

Als er zum Marathon wechselte, hatte Kenenisa Bekele zwei Träume: Er wollte in Rio Olympiasieger werden und irgendwann und irgendwo den Weltrekord an sich reissen. Jetzt lebt noch einer. Obwohl ihn auch die verschiedenen Geschäfte, ein Hotel und ein Trainingszentrum ausserhab von Addis Abeba, in Anspruch nehmen, und auch die Familie, ist die Motivation kein Problem: «Das Feuer brennt noch immer», sagt er. Wenn der Mann mit dem überragenden Talent auch dieses letzte grosse Ziel im Herbst seiner Karriere erreichen sollte, dann wäre auch die Diskussion müssig, wer der grösste Läufer aller Zeiten ist. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. Nach 15 Jahren auf Topniveau rebelliert der Körper immer mehr.

Jürg Wirz

 

Fakten zu Kenenisa Bekele

Geboren:                     
13. Juni 1982

Grösse/Gewicht:         
1,62 m/54 kg

Wohnort:                     
Addis Abeba mit seiner Frau und den drei Kindern

Coach:                        
Asrat Mercha

 

Grösste Erfolge

OS: 2. 5000 m und 1. 10 000 m 2004, 1. 5000 m und 10 000 m 2008, 4. 10 000 m 2012. -  WM:  3. 5000 m und 1. 10 000 m 2003, 1. 10 000 m 2005, 1. 10 000 m 2007, 1. 5000 m und 10 000 m 2009. - Hallen-WM: 1. 3000 m 2006. - U20-WM: 2. 5000 m 2000. - U18-WM: 2. 3000 m 1999. - Cross-WM: 1. Junioren und 2. 4 km 2001, 1. 4 km und 12 km 2002 bis 2006, 1. 12 km 2008. - Vom Dezember 2001 bis März 2007 in 27 Rennen ungeschlagen.

WR: 3000 m Junioren 2001 (7:30,67), 5000 m 2004 (13:37,35, immer noch gültig), 10 000 m 2004 (26:20,31) und 2005 (26:17,53, immer noch gültig), Halle 2000 m 2007 (4:49,99, immer noch gültig), 2 Meilen 2008 (8:04,35, immer noch gültig), 5000 m 2004 (12:49,60, immer noch gültig).

 

OS = Olympische Spiele, WM = Weltmeisterschaften, WR = Weltrekord

 

Marathon

2014: 1. Paris (2:05:04) und 4. Chicago (2:05:51); 2015: DNF Dubai; 2016: 3. London (2:06:36) und 1. Berlin (2:03:03); 2017: DNF Dubai und 2. London (2:05:57).

 

Bestleistungen

1000 m: 2:21,9 (07), 1500 m: 3:32:35 (07), 3000 m: 7:25,79 (07), 5000 m: 12:37,35 (04), 10 000 m: 26:17,53 (05); Strasse 15 km: 42:42 (01), 10 Meilen: 46 :06 (13), Halbmarathon: 60:09 (13), Marathon: 2:03:03 (16).